Tacet. Er schweigt.

gefrorener See

Es ist der erste wärmere Tag nach einer bitterkalten Woche und mein Weg führt mich am Werdersee entlang, einem Nebenarm der Weser. Es ist grau, nur wenige Menschen sind unterwegs.

Irgendetwas ist anders als sonst.

Es liegt etwas in der Luft. Alles erscheint so weit und gleichzeitig nah, irgendwie klingt die Welt anders.

Irgendetwas ist anders – und obwohl jede Zelle meines Körpers dieses „anders“ versteht: für meinen Verstand ist es unfassbar. Magisch.

Auch die Möwen sehen so anders aus, wie sie da auf dem See schwimmen…

Halt! Sie schwimmen nicht. Sie stehen auf dem Wasser. Wenn sie auf dem Wasser stehen, dann heißt das, … dann heißt das, dass…

Tacet. Der See schweigt.

An diesem Tag braucht mein Gehirn sehr, sehr lange um zu verstehen, dass der See noch gefroren ist, aber durch das Tauwetter und leichten Regen von einer dünnen Wasserschicht bedeckt ist.

So einfach. So logisch. Nicht weniger magisch.

Meine Erkenntnisse:

  1. Meine Wahrnehmung verläuft in gewohnten Bahnen. Ich bin so groß wie ich bin, vorne ist vorne und unten ist unten. Alles wie immer. Was mir entgeht, ist das Verhältnis der Dinge zueinander, die Proportionen. Und hier spielt die Musik! Probier mal das:
    – Wie groß erlebe ich mich im Verhältnis zum Raum?
    – Kann ich die Stille hinter allen Klängen hören? Die leere Leinwand hinter allen Farben sehen?
    – Wie erlebe ich meine Bewegung (Lagenwechsel, Bogenführung,…) im Verhältnis zum Boden, zu den Wänden, zum Licht, meinem Atem….?
  2. Wenn eins sich ändert, ändert sich alles. Aber krieg ich das auch mit?
    Nichts ist im nächsten Moment wie es im letzten war. Ich bin jetzt nicht die selbe wie zu Beginn dieses Absatzes – und du auch nicht, wenn du es gelesen hast. Begegne ich mir, den anderen, meinem Umfeld immer wieder frisch und neu?
  3. Natur ist immer für eine Überraschung gut und die unerschöpfliche Quelle von Lebendigkeit.
    Wandern. Spazierengehen. Im Parksitzen. Das Fenster öffnen. Vor die Tür treten und das Wetter spüren. Was hörst du? Welchem Musik entsteht in dir?Du wohnst in einer Betonwüste? Irgendwo ist auch da ein Grashalm zwischen den Steinen, eine Zimmerpflanze oder eine Motte im Biogetreide… Alles kann eine Quelle sein, sich mit der Lebendigkeit der Natur zu verbinden.
  4. Unterschätze nie die Stille und trau dich öfter hin.

Ich stehe fassunglos am Ufer und erlebe diesen mir gut bekannten Ort so vollkommen neu: den Klang, die Perspektive, das Licht. Von einem Baum segeln in Zeitlupe ein paar braune Blätter zu Boden und die Intensität der Bewegung vor dem Hintergrund der Stille verschlägt mir den Atem.

Tacet.

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